Auferstandenes Kulturerbe: Wie eine verbrannte Holzskulptur dank 3D gerettet wurde

„Steht die Denkmalpflege vor einer 3D-Revolution?“, fragte ein Artikel über ein Aufsehen erregendes Forschungsprojekt in der Münchner Theatinerkirche in der Ausgabe O5:2O12 der Digital Production. Fünf Jahre sind seither vergangen und das spektakuläre Experiment ist geglückt: Die im Krieg zerstörte monumentale Figur des Evangelisten Lukas hat ein zweites Leben erhalten – ein erhebender Moment und tatsächlich eine kleine Sensation. Nur eine ungewöhnliche Kombination aus virtueller und realer Bildhauerei machte das unmöglich Scheinende möglich.
Momentaufnahme der digitalisierten Originalfigur und der transparent dargestellten Ergänzungen bei der Bearbeitung in der Software Pixologic ZBrush.
Momentaufnahme der digitalisierten Originalfigur und der transparent dargestellten Ergänzungen bei der Bearbeitung in der Software Pixologic ZBrush.

Was war passiert? Als 1944 während des Zweiten Weltkriegs in München das Bombeninferno tobte, wurde auch die Theatinerkirche schwer getroffen. Im Chorraum standen vier kunstgeschichtlich bedeutsame, frühbarocke Evangelistenfiguren von Balthasar Ableithner (1614 – 1705). Zwei der Holzskulpturen traf es besonders hart: Die Skulptur des Heiligen Matthäus verbrannte vollständig, der daneben stehende Heilige Lukas fast zur Hälfte.
Erst über 70 Jahre nach dem Krieg entdeckte man eingelagerte Fragmente der Lukas-Figur wieder und entschloss sich, sie zusammenzusetzen. Auch nicht gänzlich zerstörte Bereiche waren an manchen Stellen so geschädigt, dass sie drohten, schon bei bloßer Berührung weiter zu zerfallen. Als die Skulptur während des Brandes auf Höhe des Gürtels auseinandergebrochen war, splitterte das Holz und die Bruchkanten verkohlten. Der untere Rest bestand also aus dem komplett von innen ausgebrannten Rumpf, der mit einer hölzernen Rahmenkonstruktion verstärkt werden musste. Weil der gesamte Übergang zur unteren Hälfte der Figur verbrannt war, diente ein Stützgerüst im Innern dazu, den oberen Teil schwebend in Position zu halten. Damit waren alle noch erhaltenen Fragmente zusammengefügt, und die rund drei Meter hohe Holzskulptur des Heiligen Lukas durfte in die Theatinerkirche zurückkehren.

Das für das Entwerfen der Ergänzungen vorbereitete Laser-Sinter-Modell im 3D-Labor der Technischen Hochschule Deggendorf – Höhe ca. 5O cm.
Das für das Entwerfen der Ergänzungen vorbereitete Laser-Sinter-Modell im 3D-Labor der Technischen Hochschule Deggendorf – Höhe ca. 5O cm.

Virtuelle Bildhauerei

Obwohl die Figur nun wieder an ihrem angestammten Platz im Chorraum stand, bot der Torso mit seiner fehlenden linken Körperhälfte ein trauriges Bild. Allen Beteilig-ten war klar: Die Skulptur muss vollständig rekonstruiert werden. Wie aber sollte man ein derart fragiles Gebilde bearbeiten, bei dem nahezu alle Anschlussstellen komplett verkohlt waren?
In der traditionellen Bildhauerei hätte man begonnen, direkt am Original einen Eins-zu-eins-Entwurf für die Ergänzungen zu modellieren. Die Teile wären anschließend abgenommen und per Augenmaß oder einem Punktiergerät von Hand in Holz übertragen worden. Schon bei diesem Arbeitsschritt wäre es unvermeidbar zu Beschädigungen der Holzkohleoberflächen gekommen, die die Denkmalpflege aber unbedingt erhalten wollte. Um die geschnitzten Anstückungen anbringen zu können, hätte man zudem mit kleinen Holzstäbchen vorher Flächen aufbauen müssen. Auch hier wären irreversible Schäden unvermeidlich gewesen. Es musste also eine andere Methode erdacht werden.
Die virtuelle Bildhauerei schien dafür das probate Mittel zu sein und versprach ungeahnte Möglichkeiten: Was, wenn man den kompletten Torso digitalisieren würde, um die Fehlstellen mithilfe neuer 3D-Technik zu kreieren?

Der „Bozzetto“, bestehend aus dem laser-gesinterten (EOS EOSINT P) Torso aus weißem Polyamid, den hellgrauen aus Gips 3D-gedruckten Elementen (ZCorporation ZPrinter) und den von Hand modellierten dunkelgrauen Ergänzungen aus industriellem Clay (Kolb InDeClay).
Der „Bozzetto“, bestehend aus dem laser-gesinterten (EOS EOSINT P) Torso aus weißem Polyamid, den hellgrauen aus Gips 3D-gedruckten Elementen (ZCorporation ZPrinter) und den von Hand modellierten dunkelgrauen Ergänzungen aus industriellem Clay (Kolb InDeClay).

Im Frühjahr 2008 war die Idee geboren. Die erhaltene rechte Hand des Lukas sollte als Versuchsobjekt dienen. Für die ersten Gehversuche kam ein industrieller Gom Atos Streifenlicht-Scanner der Hochschule Augsburg zum Einsatz, um die Hand zu digitalisieren. Zu der Zeit sorgte die ursprünglich als Malprogramm erdachte Software ZBrush von Pixologic in der 3D-Szene immer mehr für Furore. Bei den Tests diente das Programm dazu, den Rohscan aufzubereiten und mit einer besseren Topologie aus rechteckigen Flächen zu versehen, um schließlich Beschädigungen retuschieren oder fehlende Fingerglieder ergänzen zu können.
Auch wenn die Benutzeroberfläche etwas gewöhnungsbedürftig war und die Bedienung nach einem Grafiktablett verlangte, wurden die Stärken der Anwendung schnell deutlich. Zum einen gab es keine Probleme, selbst hochpolygonale 3D-Modelle mit Millionen von Polygonen in Echtzeit zu bearbeiten, zum anderen erwiesen sich die diversen Pinselwerkzeuge als äußerst intuitiv.
Obwohl man sich im virtuellen Raum bewegte, erinnerte das Arbeiten unmittelbar an das bildhauerische Modellieren mit realer Tonmasse. Als die Hand schließlich vollständig aufbereitet war, konnte sie in der Software mühelos gespiegelt und angepasst werden, um aus ihr die verlorengegangene Linke zu formen.
Was noch fehlte, war ein Frästest. Ließen sich die 3D-Daten für die Fertigung überhaupt an eine CNC-Fräse übermitteln? Der Daumen schien das ideale Objekt zu sein, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Im .stl-Format fand sich die beste Option für den Datentransfer, und die letzte Hürde bestand im G-Code. Er erzeugt für die Maschine auf Basis der 3D-Geometrie eine Liste von Befehlen, die die Achsen über die Zeit an die korrekten Positionen bewegen.
Der Code ließ sich generieren. Einige Stunden vergingen, dann hatte der Fräskopf das Modell Bahn für Bahn aus einem Lindenholzblock herausgearbeitet. Im direkten Vergleich mit dem Daumen der historischen Hand war das Ergebnis absolut überzeugend: Die angedachte Methode funktionierte. Das Daumenmodell wurde fortan zum Botschafter für die innovative Idee, mit 3D-Techniken neue Wege in der Denkmalpflege zu beschreiten.

3D-Ansicht der rekonstruierten linken Hand mit Dübel und Splint in Autodesk 3ds Max
3D-Ansicht der rekonstruierten linken Hand mit Dübel und Splint in Autodesk 3ds Max

Die Suche nach der verlorenen Form

Nachdem die anfänglichen Tests so erfolgreich verlaufen waren, konnte die gesamte Skulptur in Angriff genommen werden. Im neu gegründeten 3D-Labor der Technischen Hochschule Deggendorf machte sich das Team daran, Lösungen für die Umsetzung der anspruchsvollen Rekonstruktionen zu finden. Wie zuvor die Hand musste dazu jetzt der komplette in der Kirche aufgestellte Torso millimetergenau digitalisiert werden.
Zwei Nächte lang wurde die Figur mit einem Polymetric QT-Scuptor Streifenlicht-Scanner von sämtlichen Seiten erfasst. Als die Daten ausgewertet waren und das 3D-Modell berechnet war, faszinierte es alle Beteiligten: Mit einer Genauigkeit von unter einem Millimeter und beschrieben von fast sechs Millionen Dreiecksflächen war das Ergebnis eine exakte 3D-Kopie des Torsos.
Die 3D-Modellierung hatte ihre Stärken bereits gezeigt. War es nicht denkbar, die nötigen Ergänzungen im virtuellen Raum zu entwickeln? Das Team im 3D-Labor traf eine andere Entscheidung: In der traditionellen Bildhauerei ist es in einem solchen Fall gängige Praxis, zunächst einen kleinen plastischen Entwurf, einen sogenannten „Bozzetto“ herzustellen.
Für die Suche nach den verlorenen Formen schien dieser Ansatz vielversprechender und unmittelbarer als ein Herantasten an das Ergebnis im Kampf mit der Eingabesteuerung einer 3D-Software. Hätte man die Routine in der 3D-Modellierung aus der Endphase des Projekts – viele Jahre später – bereits gehabt, wäre die Entscheidung vielleicht anders ausgefallen.
Im industriellen Design hatten sich seinerzeit längst additive Fertigungstechniken etabliert, um im sogenannten „Rapid Prototyping“ Modelle herzustellen. Da lag es nahe, auch das jetzt benötigte, etwa 50 Zentimeter hohe Arbeitsmodell mithilfe von 3D-Drucken zu bauen. Alle 3D-Geometrien, die schon vorhanden waren, ließen sich so maßstabsgetreu in verkleinerter Form herstellen. Der eingescannte Torso des Lukas diente als Basis und wurde im Laser-Sinter-Verfahren aus robustem Polyamid hergestellt.

Das 3D-Modell für die Ergänzung der Draperie im Bereich der linken Wade der Lukas-Figur in der ZBrush-Software. Im 3D-Programm wurden bereits Frässtutzen konstruiert, um das Werkstück in der Fräse einspannen zu können.
Das 3D-Modell für die Ergänzung der Draperie im Bereich der linken Wade der Lukas-Figur in der ZBrush-Software. Im 3D-Programm wurden bereits Frässtutzen konstruiert, um das Werkstück in der Fräse einspannen zu können.

In der 3D-Modellierung bereits vorbereitete Elemente wie die Hände wurden aus Gips auf einem ZCorporation ZPrinter ausgedruckt, den die Maschinenbauer der Technischen Hochschule Deggendorf gerade erworben hatten. Selbst diese Teile präsentierten sich erstaunlich präzise und stabil. Die übrigen Ergänzungen sollten in bildhauerischer Handarbeit mit Modelliermasse entworfen werden.
Neben den beiden erhaltenen Evangelisten-Figuren, die teilweise auch digitalisiert wurden, bildeten historische Fotografien die einzige Quelle für das ambitionierte Unterfangen. Obwohl es aus der Zeit vor dem Krieg qualitativ hochwertige Bilder gab, zeigten sie den Heiligen Lukas stets nur in der Frontalansicht. Die besonders in Mitleidenschaft gezogene linke Seite war auf den Aufnahmen nicht zu sehen.
Alleine durch Betrachten der Fotos konnte man also nicht verstehen, wie die Figur sich im Raum entwickelt hatte. Vieles war zudem verdeckt, etwa durch das vor den Körper gehaltene Buch. Bei aller technischen Vorbereitung war beim Modellieren daher in erster Linie die bildhauerische und künstlerische Erfahrung gefragt.

Die passgenau auf die verkohlte Oberfläche montierte Holz-Ergänzung für das Gewand über dem linken Fuß der Skulptur.
Die passgenau auf die verkohlte Oberfläche montierte Holz-Ergänzung für das Gewand über dem linken Fuß der Skulptur.

Als der Bozzetto fertig war und die entworfenen Ergänzungen von der Denkmalpflege genehmigt waren, musste das Miniatur-Lukas-Modell eingescannt werden, um die manuell erschaffenen Formen im virtuellen Raum verfeinern zu können. Dies geschah im Werth TomoScope HV 500, dem Computertomografen der Technischen Hochschule Deggendorf. Das Gerät hatte den Vorzug, auch feinste Details und Hinterschneidungen zu erfassen.
Eine große Herausforderung wartete aber noch, weil der Tomograph zwar alles perfekt erfasst hatte, aber eben in einem Stück. Die Ergänzungen mussten also zunächst wieder vom Torso abgezogen werden. Für diesen Arbeitsschritt kam die Software Geomagic Studio zum Einsatz, welche die optimalen Werkzeuge für solch komplexe Boolesche Operationen bereitstellte (siehe DP 05:2016). Was schon zuvor in 3D differenziert ausmodelliert war, wie die Hände oder der linke Fuß, bedurfte vorerst keiner weiteren Bearbeitung. Ganz anders die händisch modellierten Partien. Sie wiesen eine unruhige Oberfläche auf und mussten in der 3D-Modellierung nachbearbeitet werden. Hier spielte ZBrush all seine Stärken aus: Kanten ließen sich begradigen, Flächen glätten, einzelne Gebilde verschieben. Die Scandaten lieferten das Rohmaterial, aus dem jetzt im virtuellen Raum die endgültige Gestaltung hervorging. Die so gewonnenen Formelemente bildeten die Basis für die später in Holz gefertigten Bauteile.
Weil die Ergänzungen vom Scan des Lukas-Torsos abgezogen wurden, entstand an ihren Schnittflächen eine perfekte Negativform der Oberflächen des Originals. Das war in erster Linie für die verkohlten Partien von entscheidender Bedeutung. Obwohl man die Holzkohle nicht berührt hatte, hatte man digitale, passgenaue Gegenstücke im korrekten Maßstab, die man auf CNC-Fräsen präzise herstellen konnte. Im Grunde stellte das den Kern der im Forschungsprojekt entwickelten Methode dar.

Der Autor bei der Montage der rechten Schulter vom Fahrgerüst aus.
Der Autor bei der Montage der rechten Schulter vom Fahrgerüst aus.

Die Kunst der Fertigung

Der künstlerische Aspekt, die verlorenen Partien nachzubilden, war die eine Sache. Mit der Konstruktion und der Fertigung wartete jetzt eine nicht minder anspruchsvolle Herausforderung: Wie sollten all die komplexen Werkstücke zerteilt und aufbereitet werden, um sie aus Lindenholz fräsen zu können? Die rekonstruierte linke Hand war durch die Fingerglieder, die in verschiedene Richtungen in den Raum ragten, eines der schwierigsten Formengebilde, das es herzustellen galt.
Das Modell wurde daher der Länge nach aufgetrennt, sodass zwei Hälften separat gefräst werden konnten und der Fräskopf an fast alle Stellen herankam. Sobald sie fertiggestellt waren, wurden die beiden resultierenden Teile miteinander verleimt. Obwohl die Form im Rohling schon beinahe perfekt herausgearbeitet war, entstand die endgültige Gestaltung erst im Bildhaueratelier.
Da die Hand im Gewand eingesteckt werden sollte, bedurfte es außerdem einer entsprechenden Öffnung im Unterarm. Um ihre Position, die im Modell festgelegt worden war, auch im Originalmaßstab zu gewährleisten, wurden in beide Werkstücke Löcher für einen Dübel und einen Splint eingearbeitet. Das entsprach zugleich der originalen Befestigung, denn bereits die barocken Skulpturen hatten auf diese Weise eingefügte und fixierte Gliedmaßen.

Der Ingenieur des 3D-Labors beim Einscannen der verkohlten Stierwange mit dem Artec-Spider- 3D-Scanner.
Der Ingenieur des 3D-Labors beim Einscannen der verkohlten Stierwange mit dem Artec-Spider- 3D-Scanner.

Wie zu erwarten, gestalteten sich die Montagen an den Stellen am aufwendigsten, wo die Oberflächen verkohlt waren. Meistens war die ursprüngliche Form in der Holzkohle noch sichtbar und entsprechend liefen die Anstückungen papierdünn aus. Immer wieder standen damit die gleichen Fragen im Raum: Gab es eine Möglichkeit, die Ergänzungen anzuschrauben, oder bedurfte es besonderer Hilfskonstruktionen? Tatsächlich kam es am Ende öfter vor, dass Holzergänzungen beinahe schwebend zwischen den angebrannten Rändern des Torsos eingebaut werden mussten. Die zu fräsenden Formengebilde waren außerdem bisweilen so bizarr, dass es eine spezielle Methode brauchte, um sie überhaupt aus einem Holzblock herausarbeiten zu können. Die Idee bestand darin, im 3D-Programm zusätzliche Frässtutzen zu konstruieren, um das Werkstück in der Fräse einspannen, rotieren und von allen Seiten bearbeiten zu können. Für derlei Aufgaben waren die leicht zu bedienenden Modellierungswerkzeuge von Autodesk 3ds Max die erste Wahl. Sobald die Fräshilfen dort konstruiert waren, wurden sie in Geomagic Studio mit der eigentlichen Ergänzung zusammengefügt und bei Bedarf in Pixologic ZBrush an den Übergängen nachbearbeitet. Das .obj-Datenformat eignete sich dabei am besten, um die 3D-Modelle zwischen den verschiedenen Softwarepaketen auszutauschen. An vorbereiteten Lochbohrungen wurde das Element schließlich durch Edelstahlschrauben mit der Skulptur verschraubt.

Die rekonstruierte Holzskulptur des Evangelisten Lukas mit all ihren Ergänzungen, wie sie heute in der Münchener Theatinerkirche zu sehen ist.
Die rekonstruierte Holzskulptur des Evangelisten Lukas mit all ihren Ergänzungen, wie sie heute in der Münchener Theatinerkirche zu sehen ist.

Von den Grenzen des Machbaren

Ein Ergänzungsteil nach dem anderem durchlief den beschriebenen Prozess und wurde in der Theatinerkirche an der Figur montiert. Schließlich waren fast alle Anstückungen angebracht und nur eine einzige fehlte noch: die linke Wange des Stiers. Obwohl die Kopfhälfte verkohlt war, konnte man dennoch die Grundzüge des einstigen Ausdrucks erahnen.
Allerdings zeigte sich, dass der anfängliche Scan des Lukas-Torsos nicht hochauflösend genug war, um all die feinen Risse und Grate des verbrannten Stiergesichts abzubilden. Es ging also noch einmal in die Kirche, um die Strukturen ein zweites Mal in besserer Qualität zu digitalisieren. Dazu stand im 3D-Labor mittlerweile ein neu erworbener Artec-Spider-3D-Scanner zur Verfügung. Das relativ kleine, tragbare Gerät ermöglichte eine Messung mit einer Genauigkeit von unter einem Millimeter. Auch eine Textur hätte sich erfassen lassen, was allerdings nicht benötigt wurde. Nach der Digitalisierung folgte eine langwierige Phase der 3D-Modellierung. Die grundsätzliche Gesichtsform beruhte dabei auf einem Scan der gegenüberliegenden, erhaltenen Kopfhälfte des Stiers. Eine offene Frage blieb: Ließ sich die präzise modellierte Maske überhaupt in der CNC-Fertigung aus Holz herstellen? Und was wäre, wenn zwar die Produktion der anspruchsvollen Ergänzung gelang, sie jedoch nicht passte? Um diesem Szenario vorzubeugen, erblickte die nachgebildete Gesichtshälfte zuerst in Form einer Kunststoffmaske das Licht der Welt.
Dazu wurde die 3D-Geometrie bei Materialise in Belgien im Stereolithographie-Verfahren durch Laserbelichtung aus flüssigem Harz aufgebaut. Solche Modelle sind relativ fragil und für einen dauerhaften Einsatz nicht belastbar genug, dafür sind ihre Oberflächen nahezu stufenfrei und präzise ausgebildet. Bei ihrer Herstellung kommt es auch zu keiner thermischen Verformung, wie es bei Laser-Sinter-Teilen leicht passieren kann. Als der 3D-Druck schließlich in der Kirche auf seine Passung getestet wurde, glitt er ohne Mühe in die vorgesehene Position. Das Zwischenergebnis sah allerdings kurios aus: Der Stier hatte zwar wieder ein vollständiges Gesicht, das Plastik wollte jedoch nicht so recht zur Erscheinung der barocken Figur passen.
Trotz dieses Einwands war der Test gelungenen, und das letzte große Experiment konnte beginnen: das Fräsen der Stiermaske aus Holz. Das 3D-Modell für das Stiergesicht hatte einige Stellen mit einer Wandstärke von weniger als einem Millimeter – eine echte Herausforderung. Eine aufwendige Konstruktion mit einem eigens gefrästen Gegenstück wurde hergestellt, um das Werkstück von beiden Seiten bearbeiten zu können. Die Rückseite der Maske aus dem Holzblock herauszuarbeiten war unproblematisch. Sobald sie fertig war, wurde sie mit Vakuum an die vorbereitete Hilfskonstruktion angesaugt und die Arbeit an der Sichtseite konnte beginnen. Das anfängliche Schruppen, bei dem in groben Bahnen mit geringer Maßgenauigkeit die Masse entfernt wurde, verlief ohne Probleme.

Das verkohlte Stiergesicht mit einem großen, ausgebrannten Loch in der Wange.
Das verkohlte Stiergesicht mit einem großen, ausgebrannten Loch in der Wange.
Ein Test mit einem Stereolithographie-3D-Druck (Materialise) der Stierwangenergänzung zur Überprüfung der Passgenauigkeit.
Ein Test mit einem Stereolithographie-3D-Druck (Materialise) der Stierwangenergänzung zur Überprüfung der Passgenauigkeit.
Die mit kleinen Edelstahlschrauben über dem verkohlten Originalgesicht des Stiers montierte Ergänzung aus Ahornholz.
Die mit kleinen Edelstahlschrauben über dem verkohlten Originalgesicht des Stiers montierte Ergänzung aus Ahornholz.
Das endgültige Ergebnis der Stierwangenergänzung mit bereits durch Querholzdübel verschlossenen Sacklöchern.
Das endgültige Ergebnis der Stierwangenergänzung mit bereits durch Querholzdübel verschlossenen Sacklöchern.

Aber darauf folgte das Schlichten mit feineren Werkzeugen, und damit rückte die eigentliche Oberfläche näher. Der allerletzte Durchlauf mit dem kleinsten Fräskopf war der entscheidende: Jetzt durften keine Vibrationen mehr passieren, es durfte kein Fräser verlaufen, nirgends durfte man zu tief kommen oder versehentlich ein ungewolltes Loch im Stiergesicht produzieren. Am Ende ging alles gut, auch wenn die Ergänzung an manchen Stellen so dünn geriet, dass man das Licht hindurchschimmern sah.
Die finalen Handgriffe gehörten dem Bildhauer: Als die Stierwange schon montiert war, folgte das endgültige Überarbeiten der Oberfläche. Mit der Bildhauerraspel ließen sich die flächigen Partien problemlos glätten, und zum Schluss blieb nur noch der Feinschliff am Stierauge übrig. Mit dem Geißfuß, einem Schnitzwerkzeug mit V-förmiger Schneide, wurden sorgfältig die Tiefen am Grund der Lider nachgezogen. Jetzt an diesen nur kaum einen Millimeter starken Stellen zu weit hineinzuschneiden, wäre fatal gewesen. Aber es kam nicht dazu. Am Ende verliefen auch die letzten bildhauerischen Arbeiten reibungslos, und der Stier hatte sein vollständiges Gesicht wieder.

Fazit

Nach vielen Jahren konzentrierter Arbeit im 3D-Labor, im Bildhauer-Atelier und nicht zuletzt auf dem Gerüst in der Münchner Theatinerkirche hat der Evangelist Lukas von Balthasar Ableithner seinen Platz im Chorraum wieder eingenommen. Im Mai 2015 wurde die Figur in einem Festakt feierlich enthüllt und gibt der Kirche ein Stück ihrer Geschichte zurück. Aber wird man später noch nachvollziehen können, wie es zu den Ergänzungen gekommen war? Könnten die erdachten Methoden nicht anderen Projekten als Referenz dienen? Aus diesem Grund erschien jetzt das reich bebilderte Buch „Lukas aus der Asche – Auferstandenes Kulturerbe aus dem 3D-Labor“, das sich ausführlich all den innovativen Verfahrenstechniken widmet und überraschende Einblicke in die außergewöhnliche Arbeit ermöglicht – schauen Sie auf der Website digitalproduction.com vorbei, wir verlosen drei Exemplare.
Rückblickend stellt sich die Frage, was man anders machen würde, stünde man noch einmal am Anfang des Projekts. Vermutlich geriete die 3D-Modellierung schon zu Beginn stärker in den Fokus und mehr Schritte würden von vornherein dort gemacht. Die spürbarste Entwicklung während der sieben Jahre Laufzeit gab es im Bereich der Scantechnologie. Die Geräte wurden kleiner, selbstpositionierend und lieferten immer bessere Ergebnisse. Parallel kam die sich stetig verbessernde Rechenleistung der Computer der Arbeit mit hoch auflösenden Scans und Punktewolken entgegen. Auch die letzten Versionen von Autodesk 3ds Max reagierten auf den Trend zum Umgang mit großen Datenmengen. Eine ständige Herausforderung bildeten zudem das Projektmanagement und die Datenverwaltung. Nur auf lokalen Rechnern bearbeitete Dateien stellten immer ein latentes Sicherheitsrisiko dar, aber eine rigorose Ordnerstruktur auf dem File-Server half, den Überblick zu behalten.
Fragt man nach den Alternativen zum beschrittenen Weg bei der Rekonstruktion der Skulptur, so ist die Antwort eindeutig: Nur die Kombination aus traditioneller Bildhauerei, den unterschiedlichen Digitalisierungstechniken, der 3D-Modellierung und der computergestützten Fertigung hat dieses Ergebnis ermöglicht – eine gelungene Symbiose aus Kunst und Technik.

Kommentar schreiben

Please enter your comment!
Please enter your name here

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.