Schneiden ohne Schiffbruch

Katzenkomödie oder Kultfim in spe? Wir fragen uns, wer „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ geschnitten hat.

Dieses Interview erscheint ursprünglich in der Digital Production 02 : 2013.

Tim Squyres hat bis jetzt elf Filme mit Ang Lee zusammen gemacht – vor „Life of Pi“ unter anderem „Hulk“, „Der Eissturm“, „Sense and Sensibility“, „Eat Drink Man Woman“ und natürlich „Crouching Tiger, hidden Dragon“, für den er einen der begehrten Oscars für das beste Editing bekam. Dazu kommen Theaterstücke und prämierte Dokumentationen.

DP: Wie sind Sie zu „Life of Pi” gekommen?

Tim Squyres: Ich habe zuvor schon oft mit Ang Lee (dem Regisseur) zusammengearbeitet. Als er von Fox angesprochen wurde, hat er sich erst mal das Buch vorgenommen, und mir auch gleich ein Exemplar geschickt – wir haben es beide aufmerksam gelesen, lange bevor es überhaupt ein Script gab.

DP: Was war anders im Vergleich zu Ihren vorherigen Filmen? Also, zum Beispiel „Tiger and Dragon“ oder „Syriana“?

Tim Squyres: Der Hauptunterschied ist natürlich, dass wir enorm viele VFXen haben – inklusive dem zweitwichtigsten Charakter! Normalerweise habe ich ja zum Schneiden nur das, was ich vom Set bekomme – aber bei „Pi“ wurde der Tiger ja bis zum Schluss in der Postproduktion angepasst und ich konnte noch Vorgaben für die Szenen machen. Dazu kommt, dass „Life of Pi“ in vielen Szenen einen Voiceover hat, den man nachträglich modifizieren kann ohne das Budget zu reißen. Von der Möglichkeit, Voiceover und Schnitt aneinander anzupassen, haben wir auch reichlich Gebrauch gemacht. Denn ein weiterer wichtiger Punkt war, dass es ein Stereo-3D-Film war. Den richtigen „Rhythmus“ eines Films zu finden und diesen im Schnitt umzusetzen ist eine der Hauptaufgaben eines Editors – und „Pi“ hatte einen völlig anderen Rhythmus, als ich je zuvor geschnitten habe.

DP: „Life of Pi“ hat einige optisch klar getrennte Kapitel. Die Erzähler-Ebene, die Jugend und die Phase auf dem Rettungsboot. Wie hat sich die Rhythmik jeweils verändert?

Tim Squyres: Den ersten Teil des Films, indem der Erwachsene Pi über seine Jugend in Indien berichtet, haben wir schnell und „leicht” geschnitten – fast wie eine Komödie. Diese Herangehensweise baut den Kontrast zu den Szenen auf dem Meer auf. Dabei haben wir vielleicht etwas zugunsten des Kontrasts die Trennungen übertrieben – aber ich denke, dass diese spezielle Geschichte das braucht. Im letzten Akt, als der Erwachsene wieder die Erzählung aufnimmt und die zweite Story erzählt, habe ich es fast wie ein Interview geschnitten. Das heißt sehr nah am Dialog, um das Dokumentarisch-Ernsthafte zu unterstreichen.

DP: Sie haben sich für den Media Composer von Avid für den Schnitt entschieden – wie waren Ihre Erfahrungen mit der neuen Version?

Tim Squyres: Die Arbeit begann im Januar 2011, einige Monate, bevor der Media Composer 6 veröffentlicht wurde. Wir haben also in MC 5.5 geschnitten. Obwohl sowohl mein Assistent als auch ich Beta-Tester der Version 6 waren, war diese Version einem großen Kinofilm noch nicht ganz gewachsen – eine Beta-Version eben. Wir wollten es zwar schon einsetzen, weil die Version 6 wegen der Stereoskopie-Features gegenüber der Version 5 einen Riesenvorteil hat. Das Arbeiten in der Version 5 war um einiges aufwendiger. Wir haben deshalb 2012 noch einmal nachgeschossen und da war ich mit einer mobilen Workstation und MC 6 am Set – per Netzwerk am Video Assist Drive, der mit ProRes aufgezeichnet hat. Der Import ging sehr flott und ich konnte den Rohschnitt praktisch sofort beginnen. Das war sehr nützlich, da wir stellenweise Einzelszenen neu gedreht haben, und ich diese direkt in den bestehenden Schnitt hineinwerfen konnte. Importieren musste ich allerdings – denn dort war die Performance von AMA nicht ausreichend.

DP: Und was wünschen Sie sich demzufolge für zukünftige Versionen vom Media Composer?

Tim Squyres: Avid hat ein paar Features entfernt, die ich durchaus vermisse. Man konnte zum Beispiel bei früheren Iterationen selbst Teile der Timeline einfärben – die Funktion vermisse ich schon sehr, da Sie mir beim Überblick sehr geholfen hat. Für die nächsten Versionen würde ich mir vor allem zwei Sachen wünschen: Zum einen hoffe ich auf Änderungen beim Audiotrack, damit ich einfach alles in die Spur werfen kann, egal ob Mono, Stereo oder 5.1. Und ich wünsche mir, wenn man in Stereo schneidet, auch einen doppelten Output. Ein anderes Feature, das ich bislang vermisse, ist das Arbeiten mit auflösungsunabhängigem Material in einer Timeline. Dann könnte man innerhalb des unskalierten Bildes schwenken.

DP: Zum Thema Hardware: Wie sieht Ihre Workstation aus?

Tim Squyres: Mein Setup ist eigentlich Standard, bei diesem Projekt bin ich nur beim Monitor ausgewichen: Nach dem Dreh haben wir unseren Dailies Projector (Christie Real D) mit nach New York genommen und in der Editing Suite aufgebaut. Dort hatten wir auch eine Silberleinwand und ein zünftiges Soundsystem und damit praktisch Screening Room und Editing Suite in einem, als ich mit Ang zusammen die finale Fassung gemacht habe. Wir konnten bequem DCP- und DPX-Dateien anschauen. Dadurch, dass wir den Projektor oft kalibriert haben, konnten wir sogar die finalen VFXen im Schneideraum beenden. Geschnitten habe ich auch die ganze Zeit in 3D – von den Dailies an, um das Raten über die 3D-Wirkung von Anfang an auszuschließen. Die Hardware, ohne die ich völlig aufgeschmissen wäre, ist mein Wacom-Tablett. Ich habe seit ungefähr 17 Jahren nicht mehr mit einer Maus in der Hand geschnitten.

DP: Verwenden Sie noch weitere Software?

Tim Squyres: Der Rest des Teams hat viel mit After Effects gearbeitet. Meine Geräuschbiblio thek und Soundeffekte verwalte ich normalerweise in iTunes und für Videokonferenzen und zur Abstimmung der einzelne Schritte verwenden wir cineSync und LifeSize. Während der eigentlichen Produktion hatten wir dazu eine Avid-Station in Taiwan, die direkt mit unserem Screening-Room gekoppelt war. Diesen hatten wir per Screensharing sowohl dort als auch in meinem Schnittraum in New York unter Kontrolle. Da ich zwischen Taiwan und New York gependelt bin, konnte ich so überall arbeiten. Wenn ich in New York war, konnte ich per Skype mit den Leuten in Taiwan sprechen.

DP: Wie viele VFXen gab es in „Life of Pi“?

Tim Squyres: Gute Dreiviertel des Films sind VFX. Die Vorschauen kamen von den VFX-Studios als DNX-kodierte Side-by-Side-Quicktimes, die finalen Renderings als discrete-eye DPX-Dateien.

DP: Braucht man da heutzutage als Cutter nicht fast zwingend auch einen VFX-Background?

Tim Squyres: Es hilft immer enorm, wenn man sich mit VFX und Animationen auskennt – um einschätzen zu können, was möglich oder leicht möglich ist. Im Gegenzug ist es wichtig zu wissen, was schwer oder nicht umzusetzen ist. Eine der Herausforderungen bei diesem Film, in dem einer der Hauptcharaktere animiert ist, war natürlich, dass wir schon vor dem Dreh wissen mussten, was passiert.

Das heißt, bevor die VFX-Studios anfingen richtig loszulegen. Wir haben deswegen ausgiebigst mit der PreViz gearbeitet und die Tier-Animation schon mit reingecompt – von Anfang an. Und natürlich auch Himmel und Hintergründe. Meiner Meinung nach ist es enorm wichtig, von Anfang an den Film nicht nur vor dem inneren Auge zu haben, sondern sogar im allerersten Rohschnitt soweit zu sein, dass man die Story sieht.

DP: Was steht bei Ihnen als Nächstes auf dem Plan?

Tim Squyres: Momentan schneide ich die Adap tion eines Ibsen-Theaterstücks, die Jonathan Demme in sieben Tagen gedreht hat. Der Film besteht im Endeffekt aus zwei Stunden durchgehendem Dialog. Das ist also der größte denkbare Unterschied, den man zu „Life of Pi“ haben kann (lacht). Abwechslung muss sein!

DP: Wie wird man Ihrer Meinung nach ein guter Cutter/Editor?

Tim Squyres: Heutzutage gehen viele Leute den Beruf sehr technisch an – was auch als Einstieg gut ist, und auf jeden Fall zum Handwerkszeug gehört. Aber irgendwann kommt man dann an den Punkt, an dem man einsehen muss, dass es eben auch sehr viel um das Erzählen der Geschichte im richtigen Rhythmus geht, um Gefühle und Ideen, die vermittelt werden wollen. Darauf muss man bewusst achten. Außerdem ist es heute meiner Meinung nach extrem wichtig, dass man als Editor nicht nur schneiden kann, sondern auch kommunikationssicher ist. Man muss mit dem Studio, dem Regisseur, dem Compositing, den Foleys und den VFX-Leuten reden können, wenn man ein guter Editor sein will. Wer also lieber allein im Schnittraum sitzt, wird noch einiges dazulernen müssen.

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